Algorithmen, Streikrecht und öffentlicher Raum
Neulich fuhren wir vom Strand nach Hause, also von Deauville in der Normandie ein bisschen ins Landesinnere. Wir waren den Weg schon ein paar mal gefahren, und so wunderte ich mich, dass das Navi uns ein wenig anders führte diesmal, aber eigentlich bemerkte ich es kaum. Erst als wir überraschend in einen kleinen Stau vor einer Autobahnauffahrt gerieten aufgrund einer frisch errichteten Barrikade, wurde mir klar: Google hatte uns die ganze Zeit schon an einem gross-angelegten Bummelstreik der französischen Bauern herumgeführt. Mit ein wenig Glück hätten wir von diesem Streik sogar überhaupt gar nichts bemerkt – ausser einer etwas längeren Fahrtzeit zu unserem Ferienhaus im Hinterland.
Ich fand das gespenstisch. In wenigen Jahren werden die meisten aller Autos mit selbstoptimierenden Navis ausgestattet sein, die permanent mit aktuellen Verkehrsinformationen gefüttert werden – schon heute erkennt Google die meisten Verkehrsprobleme und Staus nicht mehr anhand von öffentlich zugänglichen Verkehrsinformationen (z.B. der Radiostationen), sondern anhand von Bewegungsmustern von Mobiltelefonen der Autofahrer vor einem. Das ist extrem hilfreich und effizient, und nur anhand der Schriftfarbe der errechneten Restfahrzeit erkennt man häufig noch, dass irgendwo auf der Route ein Stau zu sein scheint, der aber vermutlich umfahren wird. In noch ein paar Jahren werden immer mehr Autos ganz autonom durch die Gegend fahren, und nicht mal mehr mit der Schriftfarbe auf so ein Hindernis hinweisen.
Ein Hindernis. Ein Streik ist ja eigentlich gar kein Hindernis, sondern ein – nicht nur in Frankreich – umfassend geschützter Akt der gesellschaftlichen Partizipation und des Interessens-Ausgleiches. In diesem Fall das Interesse der Bauern auf faire Bezahlung ihrer Erzeugnisse gegen das Interesse der Urlauber schnell nach Hause zu kommen. Vermittelt über den gemeinsam genutzten öffentlichen Raum, in dem sich Streiks ereignen – ohne öffentlichen und von vielen geteilten Raum sind Streiks gar nicht denkbar.
Was ist, wenn die Algorithmen diesen öffentlichen Raum plötzlich wegdefinieren und Streiks – selbst bei spontan errichteten und mobilen Barrikaden, unbemerkt umfahren? Dann trifft der Algorithmus die Entscheidung, dass dieser Streik nicht stattfindet für mich.
Das Ganze lässt sich leicht noch weiter denken – wenn in Zukunft mein Weg zur Arbeit oder zum nächsten Termin ebenfalls von datengetriebenen Algorithmen gesteuert und optimiert wird, angefangen von der individuell errechneten Weckzeit bis zur Wahl des Verkehrsmittels usw. – wenn das alles sogar noch mit Vorhersagefunktionen angereichert und verbessert wird (in die ggf. sogar Informationen aus mails der Bauern untereinander einfliessen – vollautomatisch) – werden Streiks dann nur noch in gespenstisch leeren Strassen stattfinden? Wird gar keine Anmeldung und kein Polizeischutz mehr erforderlich sein, weil alle beteiligten Systemkomponenten sich eh um das Ereignis herumoptimieren?
Technisch ist das alles weder abwegig noch abzulehen, schliesslich geht es ja nur um die Optimierung eines Fahrtweges.
Ich frage mich allerdings, ob uns das nicht beunruhigen sollte, wenn das Streikrecht plötzlich auf ganz unerwartete Weise ausgehölt wird. Streiks funktionieren über den gemeinsam genutzten öffentlichen Raum – ob es nun die Strasse ist, die U-Bahn oder der Platz inmitten der Stadt. Wird nicht eigentlich der öffentliche Raum selbst verschwinden, wenn wir in vielen Fällen gar nicht mehr selbst entscheiden, ob und wann wir jenen Platz überqueren werden? Oder müssten zukünftige Streiks notwendigerweise auch (oder nur?) in der Welt der Algorithmen stattfinden? In Google-Now und Apple-Siri errichtete Barrikaden, Verzögerungen und Falsch-Aussagen wären in der Zukunft vielleicht die naheliegendere Form des Protestes für bessere Milchpreise.