Warum ich das mit dem BGE anders sehe
Der liebe Martin Oetting hat auf seinem Blog vor ein paar Tagen einen lesenswerten Beitrag zum BGE veröffentlicht, der viel geteilt wurde. Er ist mit seiner Linie der Kritik am BGE als neoliberalem Experiment nicht alleine, das wurde auch schon verschiedentlich anderweitig formuliert (z.B. hier).
Etwas handstreichartig stellt Martin die These auf, das BGE würde letztlich zur Abschaffung des Sozialstaats führen (weil es zu teuer ist um beides aufrechtzuerhalten und natürlich bisherige Systeme ersetzen würde). Ausserdem sei es zu gering bemessen, um ein gutes Leben zu ermöglichen. Und es wird angeführt (in dem Zeit-Artikel oben insbs.), dass es letztlich eine Zweiklassen-Gesellschaft etablieren würde – auf der einen Seite die BGE-Abgehängten, auf der anderen Seite die in richtigen Berufen, die sich normal entfalten können.
Alles Risiken, die nicht ganz von der Hand zu weisen sind.
Trotzdem erscheint mir die Gegenargumentation zu stark vereinfacht, und letztlich polemisch. Ausserdem irgendwie überraschend unwillig. Zum Beispiel Höhe: wurde ja noch nicht festgelegt – wenn 1000 EUR zu wenig wäre, um ein gutes Leben zu führen, und es das Ziel wäre, das mit dem BGE zu erreichen – dann müsste es halt höher ausfallen. Verstehe nicht, warum das so ein fundamentales Argument dagegen sein soll.
Aber mein eigentlicher Punkt ist ein anderer: Ich liebe unseren Sozialstaat, also die Tatsache, dass man im Zweifel aufgefangen wird, dass niemand ins Nichts fällt* und dass eigentlich niemand hungern muss bei uns oder ohne Dach über dem Kopf leben. Und dass jede/r zur Schule und zum Arzt gehen kann. Und so vieles mehr. ABER: Martin schlägt ja vor, mal mit Leuten zu sprechen auf der Strasse, die von HartzIV leben. Gute Idee. Ich würde aber noch weiter gehen und vor allem nicht nur über die Höhe der Bezüge sprechen. Sondern über die Art und Weise, wie man an diese drankommt, und was das mit einem macht. Denn der viel gepriesene Sozialstaat ist – nach den Schröder-Reformen nochmal viel mehr – ein System von Drangsalierungen und Erniedrigungen. Das, was von Martin so gepriesen wird als ein System, das auf individuelle Not und Bedarfe eingeht, heisst im Alltag, dass Leute wegen kleinster Dinge, wie z.B. Zuschuss zur Erstausstattung wenn ein Kind in die Schule kommt, eine Tour sondergleichen machen müssen mit Wartezeiten, Vorlage von Papieren, Belegen und Unterschriften, blöden Kommentaren, Unterstellungen usw. usf.
Schön ist auch, wenn man seine Arbeit verliert und ausreichende Bemühungen um einen neuen Job nachweisen muss. Oder wenn man es nicht mehr erträgt die 18-jährige Tochter zuhause zu haben und argumentieren muss, dass diese nun Anspruch auf Wohngeld hat.
In der praktischen und alltäglichen Anmutung kommt dieser Sozialstaat überhaupt nicht wie ein freundliches Angebot eines reichen Landes daher, sondern wie eine widerwillig gewährte Notleistung mit permanenten Unterstellungen des Missbrauchs und der Minderleistung. Natürlich alles vorgetragen und kontrolliert von überfordertem und unfreundlichem Personal, das ist ja langsam eh der Standard.
Ich mag mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, wie mit diesem System weitergemacht werden soll, wenn die Gesellschaft sich vom Ziel der Vollbeschäftigung verabschieden sollte, und die Zahl der Anspruchs-StellerInnen sich vervielfachen würde, häufig ohne realistisches Ziel da je wieder rauszukommen.
Die Schröder-Reformen haben nach dem Prinzip “fördern und fordern” noch einen deutlich verschärften Instrumentenkasten der Massnahmen zur Drangsalierung und Kontrolle mitgebracht – Mitarbeiter der Arbeitsagenturen und Job-Center werden auch angehalten, diese scharf einzusetzen und angeblich gibt es sogar Kontroll- und Incentiv-Systeme, die sicherstellen, dass auch genügend gedrängelt und bedroht wird.
Dieses System ist nicht nur ein Bürokratie-Monster, sondern es ist gegen die Würde der Menschen gestrickt, die es in Anspruch nehmen müssen. Und es lebt natürlich noch von der Idee, dass eigentlich genügend Arbeit da ist und eigentlich jede/r einen Job haben könnte – WENN ER/SIE SICH DENN NUR GENÜGEND ANSTRENGEN WÜRDE!
Ich bin deswegen für das BGE, weil es mir vor diesem Hintergrund wie ein Befreiungs-Schlag für die Würde vorkommt. Und ja, vielleicht sogar wirklich auch ein Stück weit wie die Abschaffung des Sozialstaates – nämlich des drangsalierenden und entwürdigenden Sozialstaates.
Und warum sollte dieser eigentlich nicht trotzdem weiterhin da sein in Fällen, wo das BGE nicht reicht? Ich sehe nicht, warum ein BGE automatisch zur Abschaffung aller Prinzipien des fürsorglichen Staates führen müsste – das erscheint mir eher so eine Totschlag-Argumentation zu sein. Und: ein BGE wäre ja weiterhin sozial, nur halt ohne Nachweise und Drohkulisse.
Ich bin auch deshalb für das BGE, weil es uns als Gesellschaft zwingen würde nochmal neu nachzudenken, wie wir leben wollen. Was Arbeit für uns bedeutet. Denn das ist noch ein anderer Effekt, auf den ich setzen und hoffen würde – der nebenbei auch dafür sorgen täte, dass es eben keine Spaltung und Zweiklassengesellschaft gäbe. Menschen wollen arbeiten. Es ist erfüllend und toll, und man kann wachsen dabei und Glückserfahrungen haben (oder Momente der Selbstwirksamkeit). Das funktioniert dann besonders gut, wenn man nicht aus grösster Not irgendeine Drecksarbeit annehmen muss, sondern wenn man frei und mit guter Ausbildung wählen kann, was man/frau machen möchte, wo man denkt glücklich zu werden und einen Beitrag zu leisten zum besseren Leben aller. Zum einen glaube ich, dass das System von Bildung und späterem Beruf schon immer darauf zielt, Menschen in befriedigende Arbeitsverhältnisse zu bringen. Mit den Anforderungen, die Automatisierung und die Abkehr von der Vollbeschäftigung bringen wird, könnte das System aber nochmal viel nachhaltiger überarbeitet werden – nämlich so, dass wir Daseins-Vorsorge und erfüllende Arbeit soweit wie möglich entkoppeln. Eben mit einem BGE.
Und noch ein letztes – das macht es für die SPD (und viele andere mit protestantischer Arbeitsethik im Blut) auch so schwierig: Selbstverständlich sollte so ein BGE auch ermöglichen, dass Menschen gar nicht arbeiten oder einfach nur Kunst machen oder den ganzen Tag auf der Ukulele rumklimpern. Und das ohne das Gefühl, Leuten “auf der Tasche zu liegen” – sondern eher mit dem Gefühl, als glückliche Menschen einen genauso wertvollen Beitrag zur Gesellschaft zu liefern, wie der Nachbar-Malocher mit seinem BMW.
*halte ich übrigens für den grössten Fehler der Hartz-Reformen, dass genau das jetzt passiert, also dass Leute nach 30 Jahren arbeiten und einzahlen nach wenigen Monaten auf Sozialhilfeniveau fallen.
—-> Internet ist auch, wenn jemand anderes fast zeitgleich einen ähnlichen, nur viel elaborierteren und besser begründeten Text schreibt –> hier entlang