Liebe Schulen, wir müssen reden.
Kurzes Update: die Varianz ist doch recht hoch. Einige Schulen – genaugenommen muss man sagen, einige LehrerInnen – gehen wirklich mustergültig mit der Situation um. Nutzen Nextcloud für die Arbeitspapiere, bieten Video-Chat an und senden kurze Video-Messages zum Tagesbeginn. Das sollte nicht unerwähnt bleiben, allerdings zeigt es natürlich auch ein Problem: dass es in hohem Maße dem Zufall überlassen ist in unserem aktuellen System, ob ein Kind eine Top-Betreuung erhält oder halt nicht…
Ich verstehe, dass die aktuelle Herausforderung schnell und ungeplant kam. Und man könnte jetzt lange drüber diskutieren, ob nicht lange schon gemahnt wurde, dass insbs. in Deutschland die digitalen Lehr- und Lernmöglichkeiten zu wenig genutzt werden. Das führt aber jetzt zu nichts. Trotzdem durchläuft unser Schulsysem gerade so einen Härtetest, was das digitale Lernen anbelangt – und es sieht nicht gut aus. Ich habe selbst zwei Töchter in der Schule, eine 10. und eine 7. Klasse. Und ich kenne viele Eltern, die jetzt auch mit Ihren Kindern zuhause sitzen, und den Drucker im Hochleistungsmodus laufen haben.
Denn bisher sieht es grob so aus – Abweichungen nach oben und unten gibt es natürlich: SchülerInnen und Eltern werden mit Emails überhäuft, nicht selten hängen da für ein Fach eine zweistellige Zahl von auszudruckenden PDF-Seiten dran. Wochenpläne, Arbeitsblätter, Checklisten, Verweise auf Buchseiten. Manchmal wird eine Möglichkeit angeboten Ergebnisse irgendwo hochzuladen, manchmal soll man die als Attachment schicken, manchmal wird auch nur gesagt die Arbeitsergebnisse könnten “später” irgendwann geprüft werden. Übrigens ist schon diese Massnahme mit etlichen Hürden gepflastert, denn weder haben alle SchülerInnen einheitliche Email-Adressen, noch überhaupt die LehrerInnen. Datenschutz und so, ausserdem – sorry wenn ich das jetzt doch mal kurz sagen muss – digitale Verpeiltheit und Ablehnung. Aber egal, das wollte ich ja gar nicht thematisieren.
Gleichzeitig switcht das ganze analoge Arbeitsdeutschland auf Video-Conferencing, nutzt kollaborative Software-Lösungen und es werden sogar ganze Workshops und Kennenlern-Meetings ins Netz verlagert. Christoph Keesse, der konservative Ex-Manager des Axel-Springer Verlages veröffentlicht auf LinkedIn (einer digitalen Vernetzungs-Plattform für Arbeitstätige) seine Learnings zum Arbeiten im Netz. Fazit: funktioniert besser als gedacht, es wird konzentrierter, authentischer (u.a. weil man die Urlaubsbilder im Hintergrund an der Wand sieht oder schonmal ein Kind durchs Bild läuft) und ergebnisorientierter. Man kann die Arbeit fortsetzen, auch mit Kollegen und die Qualität leidet noch nichtmal unbedingt. Ich bin mir sicher, das Fazit von Keese hätte anders ausgesehen wenn er seinen Kollegen Emails mit Attachments geschickt hätte.
Also, das muss besser werden in der Schule. Und falls sie jetzt sagen/denken “ok, beim nächsten mal müssen wir da vll. wirklich besser vorbereitet reingehen und ab dem Herbst dann doch mal eine AG zu Arbeiten mit dem Internet anbieten”: nein. Es muss jetzt passieren.
Denn der Shutdown wird vermutlich noch Wochen dauern. Und ausserdem: es ist auch eine große Chance, auch für die Schulen! Die Möglichkeiten und Tools sind da, es gibt Leute die helfen wollen, und es ist auch einfach nötig. Im aktuellen Modus laufen wir Gefahr, dass für die Kinder ein halbes Schuljahr verloren geht, und übrigens die Eltern treibt es auch in den Wahnsinn so.
Was könnte man besser machen? Nun, ganz einfach und Schritt für Schritt. Hier erstmal ein paar Anregungen/Bausteine:
- Video-Konferenz: es sollte ein System geben, über das sich z.b. eine Klasse per Video zusammenschalten kann. Z.b. morgens um 9(!) Uhr für ein kurzes “Standup”.
- Gemeinsame Datei-Ablage: in einem Dokumenten-Portal werden pro Klasse und Fach alle Arbeitsaufgaben, Pläne etc. einheitlich abgelegt. Nur da.
- Gemeinsam Dokumente bearbeiten: einfach mal die ganze Klasse ein Thema auf einem geteilten Dokument im Netz erstellen lassen (z.B. mit diesem Service https://yourpart.eu/ )
- Video-Sprechstunde: jede/r FachlehrerIn bietet pro Tag eine Video-Sprechstunde an in die Kinder sich freiwillig einwählen können um Fragen zu stellen und Sachen erklärt zu bekommen
- Fach-Chat: die FachlehrerInnen könnten je Klasse und Fach einen Chat-Channel aufsetzen, und dort Beratung zu anstehenden Aufgaben anbieten usw. (alternativ auch in Slack & Co s.u. möglich)
- Digitale Referate: Kinder bereiten kleine Unterrichts-Einheiten vor (eher so 10 Minuten) und streamen diese per Video für Ihre MitschülerInnen
- Digitale Materialien aus dem Netz nutzen: jede/r sitzt ja jetzt zuhause an einem vernetzten Computer mit allen Möglichkeiten. Also sollte das Füllhorn der anderen Quellen im Netz genutzt werden. Wer findet für dieses Mathe-Problem die tollste Erklärung auf Youtube? Vielleicht auch auf englisch, dann deckt man das gleich noch mit ab
- Digitale Materialien erzeugen: SchülerInnen anleiten selbst Dinge zu erzeugen, ein Fach-Wiki, einen PodCast oder einfach eine informative Seite dazu, wie Desinfektion gegen Viren wirkt
- Soziale Nähe digital herstellen: Home-Schooling ist psychosozial eine extreme Herausforderung, auch für die Kinder. Digitale Möglichkeiten können helfen soziale Nähe und Verbundenheit herzustellen, die sonst im Pausenhof entsteht. Machen Sie sich Gedanken über einen digitalen Pausenhof. Warum nicht alle in ein Schul-Minecraft einladen, die Schule nachbauen und jeder lässt seiner Kreativität nebenbei freien Lauf? Wie wäre es mit einem Klassen-Podcast? Der einst verhasste Klasssen-Chat wird jetzt plötzlich zum Backbone des Zusammehalts, gestalten sie es mit Ihren Schülerinnen. Bei uns in der Firma gibt es einen Video-Chat, der permanent offen ist und “Küche” heisst…
- Digitale Experimente und Lehrinhalte: machen Sie die Herausforderung zur Chance. Klassen-Projekt zu Wikipedia, Ziel: gemeinsamen Artikel zu einem Thema kollaborativ erstellen, recherchieren, feinschleifen und dann die große Frage: schaffen wir es ihn in der “echten” Wikipedia zu veröffentlichen? Warum ist das eigentlich so schwierig und was kann man daraus lernen? Wie haben Lexika früher Qualität hergestellt und was kann man daraus wieder lernen? (–> Politik)
- Oh oh, Datenschutz!! Ja, der Datenschutz wurde – insbs. seit DSGVO – oft herangeführt um Innovationen zu bremsen in der Vergangenheit. Nicht immer zu unrecht, es ist natürlich wichtig dass Daten der Kinder nicht in falsche Hände gelangen und dass LehrerInnen keine Urheberrechtsverletzungen angehängt bekommen. Aber dahinter kann man sich jetzt nicht mehr verstecken, denn das geht alles. Man kann datenschutzkonform moderne digitale Tools nutzen! Und noch ein kleiner Verlags-Rant: fast jede LehrerInnen-Mail ist mit einem Hinweis versehen, dass man das Material nicht teilen dürfe über die Klasse hinaus etc. – natürlich ein riesen Versäumnis, dass man nicht früher auf OER-Materialien gesetzt hat (bei Verlagen und Schulen). Was jetzt von Schulbuchverlagen gemacht werden könnte und was ich erwarte ist: ein Moratorium für Urheberrechts-Ansprüche bis Ende des Jahres. Alles kann geteilt werden ohne dass LehrerInnen und SchülerInnen Angst haben müssen Post vom Anwalt zu bekommen. Ich fände ein Statement der Verlage dazu mutig aber auch angemessen, tragt Euren Teil bei!
- Alternatives Lernen: bitte nutzen sie die Zeit auch rauszufinden, welche Möglichkeiten des alternativen Lernens und Lehrens es geben könnte: welche Vorgaben zu Lernzeiten, überhaupt Uhrzeiten sind sinnvoll, welche nicht (laden sie die Kids doch ein, dazu was in einem Blogpost zu schreiben). Sagen Sie den Kids, dass sie 20% Ihrer Zeit für andere Projekte (mit Schulbezug) nutzen, und darüber berichten sollen. Setzen Sie mit den Kids Projekte auf, und lassen sie sie frei darin arbeiten, wie ein Forschungsteam. Denken sie über Möglichkeiten der Arbeitsvernetzung mit anderen Schulen in der ganzen Welt nach usw. Eine sehr schöne Inspirations-Quelle zum alternativen Lehren/Lernen in digitalen Zeiten sind die Beiträge von Dejan Mihajlovic aus Freiburg.
Die Liste könnte man noch beliebig weiterführen. Aber sie soll auch nicht erschlagen, denn es gibt eine wunderbare Sache, die man vom digitalen Arbeiten lernen kann: einfach loslegen! Kleine erste Versuche machen, verbessern, neu aufsetzen. Kleine Erweiterungen einfügen, ausprobieren, reflektieren. Manches wieder abschalten, anderes erweitern. Schämen Sie sich nicht, wenn ihnen das unsystematisch und komisch vorkommt. Das geht den Managern von Bayer genauso, wenn sie plötzlich mit digitalen Arbeitstechniken konfrontiert werden. Aber meistens springt schnell der Funke über und man versteht den Vorteil, ja den Spaß den diese Technik machen kann.
Vor allem aber sind solche Techniken hervorragend für Krisenzeiten geeignet. Und wir haben nicht nur eine Corona-Krise, sondern halt auch eine “digitale Schule Krise”. Wie toll wäre es, wenn wir das nicht als Versäumnis, sondern als Chance begreifen würden?
Und zuletzt noch – wie loslegen? Nicht einfach, ist klar. Aber es gibt auch eine riesige digitale Hilfs-Welle, die sich aktuell formiert. Die Leute von Chaos macht Schule z.B. arbeiten an Konzepten und Unterstützungsangeboten. Digitale Angebote wie z.B. Calliope mini haben sofort umgeschaltet auf Corona-Modus und bieten neue Inhalte an, die aktuell besonders gut funktionieren. In Ihrer Elternschaft befinden sich mit Sicherheit ein paar Menschen, die sich gut mit digitalen Möglichkeiten auskennen. Ich denke, es werden sich schon in Kürze (in wenigen Tagen) konkretere Angebote formieren. Ich werde diesen Artikel hier auch immer wieder aktualisieren, wenn etwas diesbezüglich zu berichten gibt. Bis dahin: machen Sie sich Gedanken und probieren Sie mit den Kindern vielleicht einfach mal eine Video-Session zu Beginn des Tages aus. Oder machen Sie mal eine Mathe-Stunde per Skype. Oder stellen Sie mal eine Unterrichtseinheit per Youtube zur Verfügung. Oder nehmen Sie mit einem Kollegen/einer Kollegin einen kleinen Podcast auf, vielleicht wird ja eine Reihe daraus. Nur mit Email-Attachments kommen wir jedenfalls nicht durch die Krise, so viel sollte klar sein.
We are all in this together.
Ach, eines noch: Es kursiert im Netz ein angeblicher Brief des französischen Bildungsministers an die SchülerInnen. Es ist schwer zu sagen, ob dieser authentisch ist, aber es ist auch egal. Denn in diesem Brief steckt eine wichtige Erkenntnis, die ich auch von unseren Kindern bestätigen kann: Nein, es sind keine Ferien – für niemanden fühlt sich der Corona-Shutdown so an. Die Grosseltern der Kinder leben seit Wochen in Abschottung, Papa macht keine Geschäftsreisen mehr, und auch die Kinder spüren diese seltsame Stimmung aus Angespanntheit und Ruhe in der Luft. Und natürlich Angst – dafür muss man nicht Militär-Laster zum Leichentransport im Fernsehen sehen – aber viele Kinder bekommen das vermutlich auch mit. Es ist also auch aus diesem Grund keine normale Schulsituation.
Ich sage das deshalb, weil eine Lehrerin heute schrieb “das Wichtigste was Ihr aktuell zu sein habt ist: SchülerInnen. Macht Eure Aufgaben, haltet die Zeiten ein”. Ich finde das emotional hilflos und unemphatisch. Alle sind in einer Krise, und für viele fühlt die sich existentiell und sehr bedrohlich an. Wenn die Todeszahlen in den nächsten Tagen ansteigen werden, wird sich dieser Eindruck noch verstärken. Noch ein Grund jetzt nicht mit aller Macht den Standard-Unterricht per PDF-Download und Motivations-Ansagen per mail durchzusetzen. Wir brauchen jetzt intelligentere, digitalere aber auch emotional der Situation angemessenere Angebote.
Und vielleicht noch als Vision: digitale Bildung kann so wundervoll sein. Meine Inspiration dazu kommt z.B. von den Erfahrungen mit den ersten Online-Kursen, die die Stanford-Universität vor ein paar Jahren ins Netz gestellt hat. Sie hat damit nicht nur völlig neue Wege beschritten Inhalte zu vermitteln – sondern auch den Zugang zu hochwertiger Bildung von Barrieren befreit, und Menschen weltweit zur Verfügung gestellt. Wer einmal ein Problem plötzlich verstanden hat, weil er eines dieser zahllosen Tuturials auf Youtube dazu gefunden hatte, versteht vielleicht was ich meine. Das Digitale kann die Bildung besser machen, zugänglicher, vielfältiger, intelligenter und besser auf die Erfordernisse der Kids zugeschnitten. Da sollten wir hin.
Ein paar erste Ideen/Links:
Podcasten:
- Zencastr ist ein gutes Tool, um Podcasts aufzunehmen
- https://studio-link.de/ ebenfalls gut für Online-Aufnahmen geeignet
- https://www.podigee.com/de/ Plattform zur Veröffentlichung von Podcasts
- https://www.stationista.com/de auch eine Plattform zum Hosten/Veröffentlichen von Podcasts
Video-Conferencing:
- https://meet.misax.net/ extrem niedrige Einstiegshürde, keine App o.ä. nötig, kostenlos
- https://openvidu.io/
- https://www.blizz.com/de/
- Zoom erweist sich im Arbeits-Alltag gerade als sehr gutes Video-Tool. Zum ersten Ausprobieren sicher gut geeignet, man kann ja später auf eine Open-Source Variante wechseln. In der Basis-Version bis zu 100 TN und 40min pro Session kostenlos.
(hat aber leider keine gute Datenschutz-Reputation aktuell) - https://meet.jit.si/ ist eine tolle nicht kommerzielle Variante, die schon von einigen Schulen genutzt wird
Document-Sharing:
- https://www.ucloud4schools.com/ Ucloud von der kommunalen Regio-IT ist im Schulbetrieb erprobt und setzt auf Open-Source Komponenten
- In vielen Firmen weltweit wird slack genutzt um in Teams zu kommunizieren. Man kann Channels anlegen zu einzelnen Themen (Fächern), Dokumente austauschen usw. – ist kostenlos nutzbar bis zu einer bestimmten Grenze und ein unabhängiges Unternehmen – mattermost ist eine open-source Variante zu slack, Microsoft Teams eine kommerzielle, die oft genutzt wird.
- NextCloud ist eine Open-Source File-Sharing Plattform, die zB. von Chaos macht Schule eingesetzt wird. Muss allerdings lokal installiert werden.
- Etherpads sind gemeinsam zu bearbeitende Online-Dokumente. Bei diesem Service hier kann man es ausprobieren. Dauerhaft sollte man das eher von seinem Dienstleister für die Schule installieren lassen.