Kriegsangst
Ich habe gestern Abend noch vor dem Einschlafen ein Toast mit Nutella gegessen – gar nicht gut für meine Linie. Aber meine Seele verlangt momentan danach. Denn die aktuelle Kriegs-Angst ist schon enorm, natürlich unter der Oberfläche, aber sie speist sich aus verschiedenen Quellen.
Zum einen ist da natürlich mein Aufwachsen in den 80er Jahren. Ich bin manche Nacht schlaflos in der Küche gesessen und habe mich von meiner Mutter beruhigen lassen wegen der Angst vor einem großen Atom-Krieg. Diese Angst war ubiquitär und gigantisch, fast schon ins Absurde. Aber gleichzeitig war ja alles ruhig, der Wohlstand mehrte sich und es erschien irgendwie abstrakt. Wie groß diese Angst war zeigte sich für meine Generation eigentlich erst als Gorbatschow mit seiner Perestroika kam und der kalte Krieg zuende ging. Das war so großartig, spätestens mit dem Fall der Mauer und der immer besseren Annäherung und dem Abbau der Atom-Sprengköpfe schien denkbar, dass diese fürchterliche Sorge auf den Müll wandern könnte. Aber sie hat trotzdem meine Kindheit und Jugend geprägt.
Die andere Schicht liegt tiefer und hat auch mit meiner Mutter zu tun – da geht es eher um ein vererbtes Kriegs-Trauma. Denn sowohl meine Mutter (Jahrgang 1937) als auch mein Vater (Jahrgang 1933) haben den Krieg als Kinder erlebt. Sie haben nicht viel davon erzählt, aber es gab ein paar Geschichten, die immer mal wieder hochkamen und uns zig-fach erzählt wurden. Der Vater wurde in Stuttgart mehrfach ausgebombt, ist öfter mit der Mutter im Bombenhagel in den Bunker die Straße hochgerannt und hat nach den Bombardierungen Berge von Leichen gesehen, die auf den Straßen lagen. Die Mutter ist aus Breslau geflohen und musste auf der Zugfahrt mehrfach bei Flieger-Beschuss unter die Bank kriechen. Ein Zugteil wurde von einer Bombe getroffen und weggesprengt.
Die Details sind eigentlich egal und machen einen nur fertig. Das Muster ist aber wichtig – wir wurden einfach von einer Generation von Kriegs-traumatisierten Menschen aufgezogen. Das Schuld-Trauma Teil der Nazi-Diktatur gewesen zu sein kam da nochmal on top.
In der Psychologie weiß man inzwischen, dass sich solche traumatischen Erfahrungen seelisch vererben können – ja dass die zweite Generation sich mit diesen sogar eher noch mehr herumschlagen muß als die, die das Trauma unmittelbar erfahren hat (für die ist es meistens zu groß um überhaupt in die therapeutische Bearbeitung zu gelangen).
Was ich inzwischen weiß ist, dass meine Mutter verschiedene Verarbeitungs-Strategien hatte, die ihr Seelenheil halbwegs abgesichert hatten. Manche davon waren auch einfach ein Feiern des Überlebens und der Freiheit glaube ich. Alle Arten von Süßigkeiten zum Beispiel – ihr absolutes Highlight war Nougat-Schokolade von Ritter-Sport. Aber auch Nutella und Konsorten. Es ist Seelen-Nahrung.
Macht es Diät-mäßig nicht besser, ich weiß schon. Aber wir haben aktuell wieder Zeit wo wir es schaffen müssen mit dieser Angst umzugehen ohne wahnsinnig zu werden. Und anders als meine Eltern ist meine Generation aktuell halbwegs am Hebel, wir sind keine Kinder. Wir können dafür Sorgen dass der Krieg beendet und eingedämmt wird. Wir können Menschen auf der Flucht aufnehmen und versorgen. Wir können den Klimawandel bekämpfen, auch das eine große Quelle der Verunsicherung und Angst. Ab und zu ein Nutella-Toast ist ok finde ich, aber das andere sollten wir auch tun.
Grüße an meine Mutter, ich hoffe im Himmel gibt es Berge von Nougat-Schokolade.
PS: und natürlich ist mir meine Angst überdies auch noch ein bisschen peinlich, weil ich ja top angst-privilegiert bin und andere Menschen gerade wirklich um ihr Leben oder das Ihrer Liebsten fürchten müssen.
Comments Off on Kriegsangst | Uncategorized